Die Übergänge des Lebens sind Momente, wo Menschen an ihre Grenzen kommen, wo sie Schwellen übertreten. Das Leben scheint sich in solchen Ereignissen zu verdichten. Dabei ist interessant, dass jeder Übergang stark mit einer Todessymbolik verbunden ist. Jede Geburt ist immer auch ein Ereignis "zwischen Leben und Tod". Während ein Kind erwachsen wird, "stirbt" auf einer Ebene das Kind in ihm. Der Sterbende ist am Ende seines Lebens ganz konkret mit seinem physischen Tod konfrontiert. So, wie ein Mensch stirbt, so lebt er auch. Um dem "Leben auf die Spur" zu kommen in seiner ganzen Tiefe, sind diese Momente "des Todes", der "Transformation", eben wo das Leben von uns einen Schritt in das Unbekannte fordert, besonders geeignet.
In der Bewusstseinsverfassung des Patriarchats wird der Tod stark negiert und abgelehnt. Er wird dort als eine grausame und unwiderrufliche Trennung empfunden. Deshalb fällt es den Menschen heute auch so schwer, gerade im Alltag einen positiven Bezug zum Sterben zu finden - die vielen "kleinen Tode" die für eine Reifung im Leben wichtig sind. In der Bewusstseinsverfassung des Matriarchats ist der Tod ein wichtiger Aspekt des Lebens, das sich in einer ständigen Wandlung befindet. Der Tod ist ein Übergang, eine Transformation im Kreislauf des Lebens.
In vielen Kulturen gibt es für diese "Übergänge" Hilfestellungen in Form von Übergangsritualen. Diese Rituale helfen den Betroffenen, psychische und spirituelle Kräfte zu mobilisieren, die ansonsten eher im Verborgenen liegen. Sie helfen, Unsicherheiten und Ängste zu überwinden und sich ganz der neuen Situation zu stellen.
Im Stamm der Likatier haben sich im Laufe der Jahre Hilfestellungen für diese Übergänge entwickelt. Teilweise finden sich erste Ansätze von Ritualen, die ganz aus dem Erleben der Stammesmitglieder heraus entstanden sind. Der Stamm der Likatier lehnt auf der einen Seite "kopflastiges" Übernehmen von Ritualen aus anderen Kulturen ab, befürwortet andererseits aber schon die Entwicklung stammeseigener Rituale, die als natürliche Bedürfnisse und Notwendigkeiten im Stammesleben entstehen.
Nicht nur für Stanislav Grof mit seinen erforschten Perinatalen Grundmatrizen (PGM), sondern auch für den Stamm der Likatier stellt die Geburt ein äußerst bedeutsames Übergangsereignis dar, das unser Leben sehr prägt und beeinflußt und mit dem man sich sinnvollerweise sehr beschäftigen sollte.
Geburten mitten im Stamm
Die Geburten im Stamm der Likatier finden in der Regel zu Hause statt. Nur in Notfällen wird ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. So sind mittlerweile über 100 Kinder im Stamm auf die Welt gekommen. Anwesend sind je nach Wunsch der Gebärenden viele Stammesfrauen, von denen die meisten schon Kinder bekommen haben, oft auch junge interessierte Mädchen, die Hebamme und manchmal der Vater. Geburt wird in der Regel als Sache der Frauen gesehen. Die Väter sind manchmal auf eigenen Wunsch dabei, aber halten sich meist im Hintergrund. Die Geburt ist im Stamm der Likatier kein "privates Ereignis", sondern findet "mitten im Stammesleben" statt, wobei natürlich jede Frau ganz frei entscheiden kann, ob und welche Menschen sie bei der Geburt an ihrer Seite haben möchte.
Die Frauen versuchen der Gebärenden im Vorgang der Geburt nahe zu sein und sie zu ermutigen, sich ganz zu öffnen. Für die werdende Mutter ist es oft hilfreich, im Beisein erfahrener Frauen zu gebären. Auch wenn ihr klar ist, dass sie die Geburt ganz aus sich heraus und alleine bewältigen muß, so sind die anderen Frauen Trost und auch Hilfen. Sie können die Frau ermutigen, Ängste zu überwinden und "über Grenzen zu gehen". Jugendliche Mädchen haben teilweise schon viele Geburten im Stamm erlebt. Für sie ist "Geburt" keine sterile Angelegenheit, die ganz abgesondert in einem anonymen Krankenhaus stattfindet, sondern ist ein Teil ihres Lebens im Stamm, wo sie wichtige Erfahrungen für ihre eigene "Geburt" als Mutter sammeln.
Geburt und Therapie
Während der Geburt befindet sich die Frau in einem Ausnahmezustand. Hier wird ganz deutlich, in welcher Bewusstseinsverfassung sich die Frau befindet. So nackt, wie sie das Kind gebären muss, so nackt stellt sich die Wirklichkeit für die Frau in diesem Moment dar. Hier werden Lebensängste und Blockierungen deutlich sichtbar und gleichzeitig sind die Momente der Geburt Chancen, sich dem Leben mehr zuzuwenden. Die Stammesmitglieder versuchen, während der Geburt alle aufkommenden Gefühle zuzulassen, die nach Wunsch auch auf Tonband oder Video aufgenommen werden. Die Mutter schreibt in der Regel nach der Geburt einen Bericht. Anhand dieses Materials beschäftigen sich die Stammesmitglieder mit ihren Persönlichkeitsstrukturen. Die Übergänge des Lebens sind nicht nur Krisen, sondern auch wichtige Entwicklungshilfen zu mehr Lebendigkeit.
Geburt für das Kind
Auch für die Kinder ist die Geburt eine Grenzerfahrung und ein sehr einschneidendes Erlebnis. Im Stamm der Likatier versuchen die Frauen, ein Umfeld zu schaffen, in denen das Kind sanft und liebevoll in der "neuen Welt" empfangen wird. Das Kind soll sich möglichst lange auf dem Bauch der Mutter erholen können. Körperkontakt und eine entspannte Atmosphäre sind wichtig, um ankommen zu können. Die in den Krankenhäusern übliche gefühllose Routine, mit einer zu frühen Durchtrennung der Nabelschnur, verbunden mit den oft üblichen Erstickungstraumata des Kindes, Messen, Wiegen, Wickeln, Anziehen sowie erste medizinische Interventionen wie Blutabnahme und Vitamin-K-Prophylaxe etc. werden im Stamm der Likatier in der Regel abgelehnt. Das Kind wird zwar auch gemessen usw., aber eher nebenbei und ohne die übliche grobe Trennung von der Mutter. Impfungen halten die Stammesmitglieder aufgrund neuester medizinischer Erkenntnisse in den ersten Tagen nach der Geburt für bedenklich. Im Laufe der nächsten Tage wird das neue Kind von vielen Likatiern, Nachbarn, Freunden und Verwandten besucht und im Stamm willkommen geheißen. Wenn die Mutter wieder auf den Beinen ist, findet die erste Feierlichkeit statt - eine Namensgebung für das Kind.
Das Erwachsenwerden in der Pubertät eines jungen Menschen stellt sicherlich einer der wichtigsten Entwicklungskrisen und Übergänge im Leben eines Menschen dar. Von daher ist der Stamm der Likatier natürlich bemüht, den Jugendlichen in dieser Phase besonders beizustehen und sie zu unterstützen. Soweit die Jugendlichen dies wünschen, bekommen sie in einem feierlichen Übergaberitual einen gleichgeschlechtlichen "Reifepaten", der zeitlebens eine besondere Bezugsperson sein wird, insbesondere auch in den nächsten Jahre der werdenden Frau bzw. dem werdenden Mann zur Seite steht und den Jugendlichen in allen Krisen unterstützt. Oft ist es für solch einen Jugendlichen besser, nicht nur mit den Eltern, sondern auch mit anderen Erwachsenen, z.B. mit einem Paten, zu dem das Kind eine besondere Vertrauens-Beziehung hat, über Themen wie "Verliebtsein", "Komplexe" , "Beziehungen" usw. reden zu können. Die Entwicklung einer Kultur, die es solchen jungen Menschen erleichtert, durch diesen schwierigen Übergang zu gehen, ist ein wichtiges Thema im Stamm der Likatier.
Die Mitglieder des Stammes der Likatier versuchen eine natürliche Beziehung zu den Phänomenen des Sterbens und des Todes zu entwickeln. Danach stellt der Tod von Natur aus keine grausame Trennung dar, sondern ist der Übergang zu einer anderen Form des Seins. Dies ist sowohl bei den vielen kleinen Toden so, mit denen der Mensch alltäglich konfrontiert wird, dies ist aber auch im besonderen beim physischen Tod eines Menschen so. In der systemischen Psychotherapie, wie z.B. beim Familienstellen, ist deutlich erfahrbar, dass auch die sog. Verstorbenen unter den Vorfahren durchaus Teil des Lebens sind und auch in dieser Welt präsent sind und wirken. Lediglich unsere Bewußtseinsverfassung verschließt uns in der Regel den Zugang zu den betroffenen Schichten der Wirklichkeit. So ist der Tod eines geliebten Menschens für die Likatier zwar immer noch ein mit Schrecken besetzter Vorgang, doch beschäftigen sie sich besonders in ihrer Bewußtseinsforschung intensiv mit einer Bearbeitung dieses Themas, und Schritt für Schritt gelingt es immer mehr Stammesmitgliedern, die wirkliche Bedeutung des Todes in seinem Mysterium ein Stück weit sichtbar, spürbar und erlebbar zu machen und dabei in eine besondere und neue Qualität von Beziehung zu den Verstorbenen einzutreten.
Begleitung der Sterbenden
Die likatischen Stammesmitglieder halten es nicht nur für wichtig, Sterbende zu begleiten und in dieser Zeit des Übergangs nicht alleine zu lassen, sondern es ist ihnen ein ausgesprochenes Bedürfnis, intensiven Kontakt zum Sterbenden zu haben. Natürlich richtet sich das ganz nach den Wünschen des Betroffenen. Ihm nahestehende Menschen sind Tag und Nacht bei ihm. Ähnlich wie bei Geburten ist es ein allgemeines Bedürfnis, daß das Sterben eines Menschen nicht in einem anonymen Krankenhaus geschieht, sondern zu Hause im Kreise der vertrauten und geliebten Menschen. Nach dem Tod wird das verstorbene Stammesmitglied aufgebahrt und alle Stammesmitglieder nehmen persönlich Abschied von ihm. Bisher sind drei Menschen im Stamm der Likatier gestorben.
Eigene Bestattung
Der Stamm der Likatier strebt an, eine eigene Bestattungskultur zu entwickeln mit einem stammeseigenen Friedhof, bzw. einer Gruftanlage, wo die Stammesmitglieder beigesetzt werden. Eine eigene Bestattungskultur ermöglicht den Stammesmitgliedern, ihren Umgang mit Toten selbstständig zu gestalten und neue kulturelle Maßstäbe zu setzen. Auf heutigen Friedhöfen werden Gräber z.B. nach soundsoviel Jahren aufgelassen, was für die Stammesmitglieder der Likatier undenkbar wäre! Bisher werden Stammesmitglieder auf öffentlichen Friedhöfen bestattet, wobei der Stamm bei der Beerdigung eine eigene Zeremonie durchführt, wo der Sarg bis zuletzt offen bleibt, damit alle den Verstorbenen sehen und berühren können. Das Bestattungsritual selbst kann sehr vielfältig sein und richtet sich zum einen nach der Persönlichkeit des Verstorbenen, zum anderen natürlich auch nach den Bedürfnissen der Hinterbliebenen.
"Bedenken Sie das Wunder des Lebens an sich und Sie werden sehen, daß Sie bereits angekommen sind. Wir brauchen eigentlich nichts weiter zu tun, als damit aufzuhören uns mit unserem Glauben an den Tod zu "töten"."
Fredric Lehrmann